Kammermusik in Hülle und Fülle in Herdorfs Hüttenhaus

Quarteto Neux hatte drei Jahrhunderte musikalischen Schaffens im Gepäck

Zum etwas verspäteten Abschlusskonzert der diesjährigen Saison der Kulturfreunde Herdorf, vereinten Werner Stephan (Cello), Yoshie Saito (Violine), Daniel Ibáñez García (Bratsche) und Kseniia Ivakina (Violine) Wiener Klassik, Tango, Oper, Kammermusik des mittleren 20. Jahrhunderts und zeitgenössische Popmusik.

Herdorf. Das faszinierende Konzertprogramm hatte etwas von einer Hochzeitsgesellschaft zu vorgerückter Stunde– ein bunt zusammengewürfelter Haufen unterschiedlicher Altersklassen, die sich vorher einander noch gänzlich unbekannt waren, und in dieser Konstellation wahrscheinlich nicht wieder zusammentreten, verbrachte einige ausgelassene und einzigartige Stunden miteinander. Die vier Musiker*innen des Quarteto Neux, die fast alle der Philharmonie Südwestfalen angehören – hatten Haydn, Puccini, Schostakowitsch und Piazzolla auf ihre Gästeliste geschrieben.

Los ging es mit Giacomo Puccinis „Crisantemi“, welches das Operngenie nach dem Tod eines Freundes in nur einer Nacht komponiert haben soll. Es ist einer der ganz seltenen Ausflüge des Italieners in den Bereich der Instrumentalmusik, was ob der Ausdrucksstärke des Stücks durchaus verwundern mag. Es war eine hingebungsvolle Darbietung, mit der die Künstler*innen den dreiteiligen Andante-Satz würdigten. Sie bestachen durch hohe Spielkunst und förderten wunderschöne Dialogpassagen und allerlei filigrane Kostbarkeiten an die Oberfläche. Das tief persönliche Klagelied hüllte sich dabei ganz hervorragend in die Intimität des Streicherquartetts.

Hervorzuheben sind sicherlich die erfrischenden Anmoderationen, Anekdoten und Erläuterungen zu den jeweiligen Stücken, die Daniel Ibáñez García sehr charmant vor das Instrumentalspiel setzte. Wie ein Sommelier gab er gezielte Informationen preis, sodass auch Konzertbesucher*innen mit weniger musikalischer Expertise die Möglichkeit hatten, einen tieferen Hörgenuss zu erfahren. Dies hob sich ab von den allermeisten klassischen Konzertabenden, die bisweilen etwas steif und elitär anmuten.

So erfuhren die Konzertbesucherinnen etwa über die nächste Komposition, dass Joseph Hadyn beim Aufbau gewissermaßen schon auf jene Muster zurückgriff, die erst Jahrhunderte später in der Popmusik ihren Durchbruch erleben sollten. Nach Puccinis Trauermarsch legten die Künstlerinnen regelrecht eine emotionale Kehrtwende hin, indem sie mit Haydns Streichquartett Es-Dur, op. 33,2; Hob. III 38, ein quirliges Stück darboten, welches bei den Briten den populären Beinamen „the joke“ trägt. Die Begeisterung für das Werk war den Interpretinnen während ihres Spiels jederzeit anzumerken. Ob die Fülle des gesanglich geprägten Allegros mit ein paar vorwitzigen Staccato-Triolen oder der bäuerlich zupackende Charakter des Scherzos – jede noch so kleine Nuance des heiteren Stückes saß. Überdies hatten alle Protagonistinnen die Möglichkeit ihr Können unter Beweis zu stellen – etwa durch ein begeisterndes Glissando der Violinistinnen, eine sanfte Bratscheneinleitung des Largos oder durch packend pointierte Sechzehntel des Cellisten. Das Quarteto Neux beherrscht sein Handwerk.

Nach einer kurzweiligen ersten Hälfte, stand mit Dimitri Schostakowitschs Streichquartett Nr.3 F-Dur, op. 73 durchaus harte Kost auf dem Programm. Der Russe verarbeitete hierin seine persönlichen Kriegserfahrungen, die so gar nichts mit jener epochalen Siegeshymne zu tun hatte, zu dessen Komposition man ihn unter der Schreckensherrschaft Stalins kurz nach Kriegsende nötigte. Nein, in diesem – erst nach dem Tod des Diktator im Jahre 1953 veröffentlichen Stück – ging es nicht weniger als um die Verarbeitung des Unvorstellbaren. Es handelt sich um ein Abbild harter Zeiten und gerade deshalb ist es bedauerlicherweise so aktuell, so nahbar, so bedrohlich.

Ohne jeden Zweifel war es das absolute Highlight des Nachmittags. Es sollte ein rasanter Ritt werden, der den Vieren nicht nur ihre volle Konzentration, sondern auch eine ausgeprägte körperliche Ausdauer abverlangte. Durch das Stück zieht sich quasi eine durchgängige Doppelbödigkeit, da auch vermeintlich einfache Melodien und harmlose tänzerische Elemente enthalten sind. Mitunter kommen die einzelnen Sequenzen recht heiter daher, doch der zeitgeschichtliche Kontext und Schostakowitschs Vorliebe für Parodien, etwa auf einen preußischen Parademarsch im 3. Satz, tun ihr Übriges. Und schneidend, wie eine Rasierklinge schob sich das Groteske durch alle Ebenen dieses expressionistischen Feuerwerks. In einem absolut fantastischen, ja atemberaubenden Vortrag fesselten die Musiker*innen ihr Publikum bis ins Mark. Obwohl das Verstörende und Schauderhafte dieser Erzählung von Macht und Machtlosigkeit überwog, enthielt es auch eine sanft angedeutete Hoffnung auf Frieden und Zärtlichkeit. Am Ende war es mucksmäuschenstill, bis ein lang anhaltender und verdienter Applaus einsetzte.

Anschließend vollführten die Musiker*innen mit Astor Piazzollas „Four for Tango“ erneut einen emotionalen Umschwung. Das kurze Stück hatte etwas rustikales und lebhaftes, was man als Verweis auf die Ursprünge des Tangos in den Nachclubs und Bordellen von Buenos Aires deuten konnte. Redundant, mit einer Fülle von Stimmungen, Motiven und Spielstilen nicht geizend, wanderten die Streicher 'innen gekonnt auf der Schwelle von E- und U-Musik. Da durfte der Klang des Lackschuhabsatzes der Geigerin, der deftig aufs Parkett aufschlug, sich auch schon Mal mit den sonstigen Melodien in der wunderbaren Akustik des Hüttenhauses vermischen.

Als Nachschlag gab es einen zeitgenössischen Popsong, bei deren Interpretation noch einmal eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Spieltechniken dargeboten wurde, Hälse und Klangkörper als Schlagwerk fungierten und die Frische und Freude des jungen Ensembles weiterhin aufblitzten. Dieser aufsehenerregende Konzertnachmittag dürfte nachhaltig in Erinnerung bleiben.

Bilder: Peter Marcel Schneider