Reisefieber im Herdorfer Hüttenhaus

In Kooperation mit Villa Musica luden die Kulturfreunde Herdorf zu einem Konzertabend mit drei Streicherwerken aus Klassik und Romantik ein. Zu Gast waren Musikdozent Boris Garlitsky und Stipendiat*innen der Villa Musica, die mit Werken von Mozart und Tschaikowsky ein italienisch-russisch-ukrainisches Potpourri und einen vergnüglichen Konzertabend lieferten.

Herdorf. Ich packe meinen Koffer … so lautet nicht nur der Name des bekannten Gedächtnisspiels, sondern verdeutlicht ebenso treffend das Sujet des Konzertabends. Insbesondere die ukrainischen Einflüsse der Werke des russischen Komponisten Pjotr Tschaikowski rührten das Publikum, da sie die Verwirrung und sehnsuchtsvolle Zerrissenheit dieser Tage einzufangen wussten.

Boris Garlitsky, langjähriger Konzertmeister des London Philharmonic Orchestra, zählt zu den renommiertesten Geigern seiner Generation. Gemeinsame Auftritte mit Größen wie Anne-Sophie Mutter zieren sein Portfolio ebenso wie Professuren an der Folkwang Universität der Künste in Essen oder am Conservatoire National in Paris. Begleitet wurde er von fünf Stipendiat*innen, die trotz ihres jungen Alters schon reichlich Erfahrung und Renommee aufweisen. Nikita Geller (Violine), Joon Hurh und Izabel Markova (beide Viola) und die Cellisten Benediko Loos und Carlo Lay sind allesamt vielfach mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet.

Den Auftakt bildete mit Mozarts C-Dur-Quintett KV 515 ein bedeutsames, sinfonisch ausladendes Werk. Der üppige Kopfsatz startete mit einem kraftstrotzenden, hochsteigenden Cellosolo, welches durch feinfühlige Seufzer der ersten Violine beantwortet wurde. Einem Tonartwechsel in c-Moll folgte eine fesselnde Steigerung und eine originelle Auflösung nach C-Dur. Im Andante ging es dialoglastig weiter. Erste Bratsche und Geige traten in eine theatralische Konversation, die durch eine ausdrucksstarke Darbietung hervorragend in Szene gesetzt wurde. Ebenso gestalteten die Musiker*innen das Menuett, welches zunächst als schlichtes Terzenthema begann, anschließend aber umso raffinierter ausgeführt wurde. Das abschließende Finale wurde durch ein Sonatenrondo getragen, welches ein zugrundeliegender Tritonus kontrastierte und dem Ganzen einen spannungsvollen Charakter verlieh.

Es folgten zwei Stücke Tschaikowskys, wobei der Entstehungsgeschichte von Andante cantabile mittlerweile etwas Bittersüßes anhaftet. Durch die Kriegserklärung Frankreichs an Preußen musste der Komponist eine gänzlich misslungene Rhein-Reise frühzeitig abbrechen. Er floh in die Stadt Kamjanka, die bis zum Kriegsausbruch 2022 wegen ihrer Bedeutung für Dichtung und Musik als „Weimar der Ukraine“ gilt. Völlig hingerissen von der Schönheit des Landes, beginnt der Russe mit einem Werk, mit dem er Land und Leuten ein Denkmal setzte. Zum Auftakt verarbeitet er eine einfache ukrainische Volksmelodie, die er einem Zimmermann abgelauscht haben soll, der sie bei der Arbeit sang. Bereits 1876 rührte die himmlische Wirkung der Melodie den großen Lew Tolstoi zu Tränen. Und auch die Zuhörerschaft im Hüttenhaus konnte sich dem gespenstischen Antlitz nicht entziehen, welches der andächtigen Interpretation der Musiker*innen innewohne und Gedanken an die friedvolle Blütenpracht eines ukrainischen Sommers erwachsen ließ.

Zum Abschluss eines runden Abends ging es multinational weiter. Tschaikowskys einziges Streichsextett – d-Moll, op. 70 Souvenir de Florence – spannt einen Bogen vom italienischen Frühjahr zu einem russischen Sommer. Das unterhaltsame Stück ist extrem abwechslungsreich – etwa durch die orchestrale Ausgestaltung zu Beginn, die mit kurzen Walzermotiven versehen wird, das Hymnische des Adagios oder einem eingängigen russischen Thema im Scherzo. Unbestechlich gelang es den Musiker*innen, das komplexe An- und Abschwellen von Dynamik reichhaltig und zielsicher darzubieten. Durch intelligentes Instrumentenspiel inszenierten sie die ganze Ambivalenz einer jungen Liebesbeziehung stilsicher und bewiesen ihr Können. So ließen sie etwa durch ein pointiertes und tröpfchenweises Zupfen der Streichinstrumente eine spannungsreiche, ja geheimnisumwitterte Stimmung entstehen.

Bilder: Peter Marcel Schneider